250.000 Euro wegen Corona-Berichterstattung?
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Thomas Laschyk sitzt im kleinen Tonstudio seiner Redaktion, dem Blog “Volksverpetzer”. Er hat an diesem Tag schon zwei Interviews gegeben, einer Lokal- und einer Wochenzeitung, der “Zeit”. Hintergrund des Interesses ist ein Artikel in eigener Sache über ein anwaltliches Abmahnschreiben. Darin heißt es: “Wir sollen zum Schweigen gebracht werden”. Denn Laschyk und sein Team werden unter anderem aufgefordert, 250.000 Euro Schadensersatz zu zahlen wegen ihrer Berichterstattung über Wolfgang Wodarg. “Wir haben das Gefühl, dass wir speziell da herausgepickt wurden. Weil, wie in dem juristischen Schreiben an uns selbst drinsteht, gab es unzählige Artikel über Herrn Wodarg.”
Wodarg gehört im März, zu Beginn der Pandemie, zu den ersten prominenten Stimmen, die von Panikmache im Kampf gegen Corona sprechen. Über die den Virus und seine Folgen verharmlosenden Aussagen, die der Mediziner und ehemalige SPD-Gesundheitspolitiker dabei verbreitet, berichtet auch “Volksverpetzer” – genauso, wie es zuvor bereits andere Medien getan haben.
(imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
In dem Anwaltsschreiben nun heißt es, Wodarg sei, Zitat, mit seiner “Aufklärungsarbeit offensichtlich als unbequem sowie gefährlich für das Lockdown-Narrativ der Bundesregierung empfunden” worden. Dieser, so heißt es weiter wörtlich, “sollte zielgerichtet aus dem Verkehr gezogen werden, indem eine Stimmung erzeugt werden sollte, dass man sich mit unserem Mandanten nicht mehr blicken lassen dürfe”. Der Blog habe mit seinem Artikel zu dieser “Ansehensbeschädigung” beigetragen und sei “in vollem Umfang für den Schaden verantwortlich” – und zwar “als Gesamtschuldner”. “Wir betrachten das als ziemlich transparenten und plumpen Versuch, uns einzuschüchtern”, sagt Laschyk.
Klage-Drohungen gegen Drosten, Youtube und Google
Nicht nur Wodarg, auch sein Anwalt, der Göttinger Jurist Reiner Fuellmich, hat mit Corona-Kritik in den vergangenen Monaten für Schlagzeilen gesorgt. So hat er etwa angekündigt, eine internationale Sammelklage gegen den Virologen Christian Drosten sowie die Produzenten von PCR-Schnelltests auf den Weg zu bringen. Warum, erklärt er in seinem eigenen Youtube-Kanal: “Die Absicht dahin ist, diejenigen zunächst mal zur Verantwortung zu ziehen und mit Schadenersatz zu belasten, die nach außen sichtbar falsche Tatsachenbehauptungen aufgestellt haben.”
(picture alliance/Friso Gentsch/dpa)Öffentlichkeitsarbeit im Rechtsstreit: Wenn Anwälte auf eigenen Kanälen senden
Der Anwalt des mutmaßlichen Mörders von Walter Lübcke hat angekündigt, auf seinem Youtube-Kanal über den Prozess gegen seinen Mandanten zu informieren. Längst nutzen auch andere Juristen soziale Medien für ihr Geschäft. Für Rechtsexperten ist das eine Gratwanderung.
Zuletzt kündigte Fuellmich in einem Interview mit einem niederländischen Youtuber zudem an, auch gegen Youtube und Google juristisch vorgehen zu werden. “We’re gonna go to court, we’re gonna sue Youtube and Google.” Seine Begründung: Beide Plattformen würden Zensur betreiben, wenn sie bestimmte Videos mit Corona-Aussagen, unter anderem seine eigenen, löschten. Ob der deutsche Anwalt mit Klagen gegen die US-Unternehmen und Drosten Erfolg haben könnte, bleibt abzuwarten.
Blog-Anwalt sieht keine juristische Grundlage
Dass der Blog “Volksverpetzer” seine rechtliche Auseinandersetzung mit Wodarg und dessen Anwalt Fuellmich auch öffentlich in seinem eigenen Blog austrägt, erklärt Thomas Laschyk so: “Also wir machen uns wegen dem Schreiben keine Sorgen, auch als Laien waren wir uns relativ sicher, dass da keine juristische Grundlage für da ist. Und auch unser Anwalt ist dann dieser Meinung gewesen.”
Der Münchner Kommunikationswissenschaftler Carsten Reinemann wundert sich, dass der Mediziner Wodarg auf Rechtsstreit statt wissenschaftlichen Diskurs setzt: “Wenn ich mich mit starken Äußerungen, starken Behauptungen, die unter Umständen dem kompletten Konsens der Wissenschaftsgemeinde widersprechen, wenn ich mich damit in die Öffentlichkeit begebe, muss ich natürlich damit rechnen, dass ich dort auch entsprechenden Gegenwind bekomme.”
(ZB)Angriffe auf Journalisten nehmen zu: “Ihr geht sowieso bald alle hops”
Die Stimmung ist aufgeheizt, die Hemmschwelle sinkt: Wieder wurden auf einer Demonstration von Gegnern der Corona-Maßnahmen Journalisten angegriffen – vergangenen Samstag in Leipzig. Die Häufigkeit solcher Vorfälle nehme zu, sagen Journalistenverbände.
Laschyk: Methoden wie von Rechtspopulisten
Mit ihrem juristischen Angriff auf Medien wie “Volksverpetzer” folgen die Kritiker von Corona-Maßnahmen einem bewährten Muster, findet Blogger Thomas Laschyk: “Also das Feindbild und die Methoden sind sehr ähnlich wie von Rechtspopulisten.” Diese würden ebenfalls versuchen, das Narrativ einer staatlich gelenkten Presse zu verankern. Wolfgang Wodarg etwa spricht davon, große Medien würden “wie Hofberichterstatter” wirken.
Wodarg und andere setzen deshalb auf sogenannte alternative Medien. Was diese Medien für bestimmte Menschen attraktiv macht, hat Carsten Reinemann an seinem Lehrstuhl der Universität München untersucht. Ein Ergebnis: Dort finden sie sich oft in ihrer eigenen Meinung bestätigt: “Das heißt, man kann nicht unbedingt davon ausgehen, dass man jetzt dort relativ qualitativ hochwertige Berichterstattung oder Vielfalt sucht, sondern dass viele der Menschen dort eben tatsächlich das finden, was ihre eigene Meinung ist. Das heißt primär auch sich Bestätigung versprechen, Dinge, die ihren eigenen Ansichten entsprechen, die sie vielleicht woanders nicht zu wiederfinden glauben.
Aber welche Position hat dann der “Volksverpetzer”? Sieht er sich als Teil der angeblichen “Systempresse”? Thomas Laschyk lacht – und winkt ab: “Wir sind wirklich das Gegenteil von Mainstreammedium: Wir sind ein kleiner Blog, finanziell und parteiisch völlig unabhängig, mit zwei Mitarbeitern, zwei festen Mitarbeitern. Und es liegt einfach daran, dass wir über Wissenschaft und die Fakten reden – und nicht wegen Mainstream-Medien oder nicht.”
Die Volksverpetzer sind die Blogger des Jahres
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Rund 20 Leute arbeiten ehrenamtlich für den Volksverpetzer: ein Blog, das politische Falschmeldungen aufdeckt, verschobene Framings entlarvt und mit seiner Arbeit zu einem gesunden demokratischen Diskurs beitragen möchte. Mit seinen Artikeln landet das Team des Volksverpetzers immer wieder in den Timeslines von Nutzerinnen und Nutzern – und ist damit jetzt als “Blogger des Jahres” ausgezeichnet worden.
Die Preise bei den Goldenen Bloggern in Berlin wurden in insgesamt 19 Kategorien vergeben. Über die Gewinner haben wechselweise das Publikum im Saal, Nutzerinnen und Nutzer am Livestream oder eine Jury aus den Gewinnern der vergangen zwölf Ausgaben entschieden – die Goldenen Blogger, die aus einer Spaßveranstaltung in Düsseldorf hervorgegangen sind, wurden gestern mittlerweile 13. Mal vergeben.
Der Preis fürs Lebenswerk ging an “Deutschlands Internet-Erklärer Nummer eins” Sascha Lobo, der als Blogger bekannt wurde, sich mittlerweile aber vor allem als Buchautor und mit seiner SPIEGEL-Kolumne einen Namen macht – und einem eigenen Podcast, in dem er jede Woche eine Stunde lang die Kommentare zu seiner Kolumne seziert und dabei auch immer wieder seine eigene Meinung überdenkt.
Der Bloggerin und Historikerin Marie Sophie Hingst wurde der Blogger-Preis 2017 in diesem Jahr aberkannt, nachdem bekannt wurde, dass sie ihre angebliche jüdische Familiengeschichte samt 22 Holocaust-Opfern erfunden hatte.
Auf der Liste der Preisträger finden sich auch weitere bekannte Namen: Tim Mälzer gewinnt für “Fiete Gastro” den Preis für den besten Podcast. Dorothee Bär erhält ihn als “Beste Bloggerin ohne Blog”, weil sie es schafft, sich auch ohne klassisches Blog eine Stimme im digitalen Diskurs zu verschaffen. Und für seinen bemerkenswerten Twitter-Account wird der CDU-Politiker Ruprecht Polenz mit 73 Jahren bester Newcomer.
Die Goldenen Blogger sind jedes Jahr aber auch deshalb einen Blick wert, weil sich auf der Liste der Preisträger eine ganze Reihe wertvoller und interessanter Blogs finden, in die Privatleute viel Herzblut stecken: vom Podcast “FRÜF – Frauen reden über Fußball” über das Tagebuch “Alzheimer und wir” und das Medizinblog “Schwesterfraudoktor” bis zu völlig verrückten Projekten wie dem Hubschrauberblog “Helikopter Hysterie ZWO”.
Es lohnt sich, die lange Liste der Preisträger und auch die noch längere Liste der Nominierten durchzugehen. Darin stößt man jedes Jahr auf wirkliche Perlen – mit denen die Preisverleihung auch zeigt, dass die Blogosphäre nach wie vor sehr lebendig ist.
(Offenlegung: Daniel Fiene, der die Goldenen Blogger mit veranstaltet und moderiert, ist ein Freund und Kollege von mir. Was aber nicht der Grund ist, warum ich hier über die Veranstaltung berichte.)
Das Altpapier am 4. Januar 2021 Die Niederlage der Gewissenhaften
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Wenn sich Vorhersagen tendenziell bewahrheiten, ist das nicht immer angenehm. Als mir für einen Abschnitt im Altpapier-Jahresrückblick die Zwischenüberschrift “Nach der Pandemie ist vor der Pandemie” einfiel, habe ich mir nicht vorstellen können, dass man bereits im ersten Altpapier des neuen Jahres auf eine neue Pandemie wird eingehen müssen.
“Als würde eine neue Pandemie starten” (Krautreporter) - “(Wir) müssen (B.1.1.7) so behandeln wie eine völlig neue Pandemie” (Volksverpetzer) - “Wir sind in eine neue Phase der Pandemie eingetreten” (Science-Magazin-Korrespondent Kai Kupferschmidt, siehe Riffreporter) - “In a few weeks from now #B117 will replace all other #SARSCoV2 across Europe” (die Schweizer Virologin Isabella Eckerle). All diese Formulierungen unterscheiden sich zwar in Nuancen, aber auf Folgendes werden sich die zitierten Artikel bzw. Experten einigen können:
“Die Gefahr durch [die] neue Virusvariante wird nicht ernst genommen, es wird wieder abgewartet, bis es zu spät ist, und wieder die Stimme der Wissenschaft ignoriert (erneut Eckerle, via Riffreporter). Und Silke Jäger schreibt im erwähnten Krautreporter-Artikel:
“In Deutschland wird bisher kaum über das Potenzial der Virus-Variante geredet. Dabei ist die Ausgangslage nicht besonders gut: Bei so vielen Ansteckungen, bei denen die Kontaktnachverfolgung im Moment nicht gut gelingt und damit dem Virus immer einen Vorsprung lässt, wäre eine Ausbreitung der mutierten Variante so, als startete eine neue Pandemie, während die erste noch gar nicht bewältigt wurde.”
In dem oben genannten Altpapier-Jahresrückblick - sowie in einem weiteren MDR-Beitrag von mir zum Thema Wissenschaftsjournalismus im Corona-Jahr - wird Volker Stollorz zitiert, der Leiter des gemeinnützigen Science Media Centers in Köln. Für Zeit Online äußert er sich nun zur Lage dieses Genres teilweise ähnlich positiv wie in den beiden genannten Beiträgen:
“Viele (Wissenschaftsjournalisten) haben die komplexen und vorläufigen Erkenntnisse zu Schutzmaßnahmen und Ansteckungsrisiko fundiert und klar für die Öffentlichkeit aufbereitet, um Orientierung zu geben im Umgang mit dieser Pandemie.”
Es folgen ein paar schwer wiegende Abers, die daraus resultieren, dass derzeit nicht nur Wissenschaftsjournalisten über Wissenschaft berichten:
“Wenn der Journalismus seine Auswahlroutinen von wissenschaftlichen Expertinnen und Experten nicht sorgfältiger reflektiert, wird er auch künftig anfällig bleiben für Instrumentalisierungen. Mächtige Interessengruppen können Mietmäuler mit Professorentitel beschäftigen, um öffentlichkeitswirksam Zweifel an unpassenden wissenschaftlichen Risikobotschaften zu säen. Umgekehrt sind Journalisten stets versucht, Forschende zu präsentieren, die im Publikum erwünschte Botschaften senden. Über den Sommer mit seinen Lockerungsdebatten bei geringen Fallzahlen wurde es für Medien zunehmend attraktiver, Experten zu befragen, die Zweifel äußerten an der Angemessenheit der Alarmierung. Virologen wie der HIV-Experte Hendrik Streeck vertraten emotional für viele im Publikum attraktive Minderheitenpositionen und selbst ernannte Pseudoexperten in sozialen Netzwerken schafften es immerhin, sich – unter dem Siegel der Meinungsvielfalt – mit Verantwortlichen von öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern zu treffen. Im Ergebnis können sich durch solche Verstärkereffekte in bestimmten Publika absurde Thesen verselbstständigen.”
Dass Stollorz hier noch einmal schnippisch darauf abhebt, dass sich hochrangige ARD-Senderleute mit “Pseudoexperten” getroffen und damit das Schwurbler-Milieu aufgewertet haben (Altpapier) - das halte ich angesichts der Unfassbarkeit dieser Eselei für durchaus geboten. Das Fazit des Autors:
“Am Ende empfinde ich es als Niederlage, dass es den vielen gewissenhaft arbeitenden Wissenschaftsjournalisten in Deutschland und den Forschenden im Herbst nicht länger gelungen ist, ihrem Publikum den breiten fachlichen Konsens über die drohende winterliche Welle klarzumachen. Zu übermächtig waren in vielen Medien die Reflexe, jede Einschätzung aus der Wissenschaft mit einer Gegenposition zu kontrastieren und ungeprüfte Forschungsergebnisse aus Einzelstudien uneingeordnet zu vermelden, sodass sie Zweifel an dem weckten, was längst wissenschaftlicher Konsens war.”
Ich spitze das mal auf drei Arten zu, die Stollorz vielleicht nicht Recht wären.
Die arrogante Version der Zuspitzung lautet:
Der Wissenschaftsjournalismus handelt verantwortungsvoll, Journalisten anderer Ressorts, die unbedingt meinten (und weiterhin meinen), man müsse wissenschaftlichem Konsens irgendeine andere “Meinung” gegenüber stellen, handeln verantwortungslos.
Die bodenständige, vom Fußballerjargon inspirierte, lautet:
Was wir Wissenschaftsjournalisten mühsam aufgebaut haben, haben andere mit dem Arsch eingerissen.
Und die pathetische:
Auch Journalisten tragen eine indirekte Mitverantwortung für die Pandemie-Toten der zweiten Welle.
Nun ist es ja sehr oft so, dass die guten Journalisten gegenüber den bösen (oder den blöden) das Nachsehen haben. In der Regel hat die Hegemonie der Bösen und Blöden aber keine tödlichen Folgen.
Ebenfalls für Zeit Online hat Georg Seeßlen eine umfassende Kritik an der medialen Bilderproduktion zum Thema Impfen formuliert. Ein Aspekt sei herausgegriffen:
“(D)ie Zeichen sind widerspenstig. Zeitungsartikel und Fernsehbeiträge, die sich mit der Hoffnung auf einen Impfstoff beschäftigen, machen mit dem Bild einer Spritze auf. (…) In Anbetracht der Tatsache, dass Spritzen ‘indexikalisch’ für Schmerz, Angst und ‘Eindringen’ stehen (wer assoziierte nicht sogleich das weinende Kind?), könnte man vom Verschmelzen des Katastrophen- mit dem Trost-Bild sprechen. Die Heilung von der allgemeinen Katastrophe liegt in einer individuellen Schmerzkrise, so suggeriert dieses Indexbild, das verstanden wird, insofern es gleichsam beim Betrachten wehtut. Endlich ist die ‚Waffe’gefunden, und was wäre eine Waffe, die nicht drohen kann? (…) Das Angstbild der Spritze als Rettungsversprechen – deutlicher kann man die semantische Katastrophe, die auf Pandemie und ‘Infodemie’ folgt, kaum ausdrücken.”
Ob die Nachrichtenproduzenten möglicherweise noch eine andere Bildsprache zum Thema Impfen finden werden - das ist ein Aspekt, den man in den ersten Wochen des neuen Jahres im Blick haben sollte.
Um halbwegs systematisch in den Griff bekommen, was sich in den in den vergangenen fast zwei Wochen (seit dem Erscheinen des letzten regulären Altpapiers) an tendenziell medienkolumnistisch relevanten Inhalten angesammelt hat, konzentriere ich mich im Folgenden erst einmal auf sehr lesenswerte Interviews. Das über alle Genregrenzen hinweg wichtigste Gespräch hat die Schweizer Republik mit dem Soziologen Mike Davis geführt.
“Jetzt versuchen wir gerade, dieses Coronavirus in den Griff zu bekommen. Das heisst aber nicht, dass die anderen Monster nicht weiter vor unseren Türen lauern. Die bedrohlichsten sind (…) die Vogelgrippeviren. Wir wissen heute, dass wir wohl nur eine einzige Mutation davon entfernt sind, dass einer der tödlichsten Stämme der Vogelgrippe pandemisch wird”,
sagt er, und damit wären wir wieder beim Schlagwort “Nach der Pandemie ist vor der Pandemie”. Davis hat das zu einem Zeitpunkt formuliert, als er das “Monster” B.1.1.7 noch nicht kennen konnte. Er führt hier unter anderem aus, dass es nicht reicht, Symptome zu behandeln, sondern dass es darauf ankommt, die Ursachen der Pandemien zu beseitigen, also die Massentierhaltung abzuschaffen und eine nachhaltige Landwirtschaft zu erschaffen und “die Zerstörung von kleinen Höfen” und “die Zerstörung funktionierender Agrar-Ökosysteme” durch das “von multinationalen Konzernen kontrollierte” Agrarbusiness zu stoppen.
Das klingt in dieser von mir jetzt stark verkürzten Form nicht neu, aber ich will versuchen, daraus eine vielleicht noch nicht oft genug gestellte Frage abzuleiten: Was bedeutet das von Davis Gesagte, zumal sich die Ursachen für Pandemien und die Klimakrise (Massentierhaltung, zerstörerische Agrarindustrie) teilweise überschneiden, für den Journalismus? Vereinfacht gesagt: Der Landwirtschaftsjournalismus sollte eine größere Rolle spielen, die Medienhäuser müssten mehr Nachwuchs in dem Bereich einstellen, und mehr potenzielle Einsteiger sollten sich entsprechend spezialisieren, weil viel umfangreicher als bisher darüber berichtet werden müsste, wer welche radikalen Reformmodelle vertritt und wie realistisch jeweils die Umsetzung ist. Und die Aufgabe des Medienjournalismus könnte es sein, im Blick zu haben, dass eine entsprechende Berichterstattung gewährleistet ist.
Ein unter klassisch medienjournalistischen Aspekten instruktives Interview hat der Standard mit Antonia Gössinger geführt, die als Chefredakteurin der in Kärnten erscheinenden Kleinen Zeitung in den Ruhestand geht. Es geht um den Druck, den Rechtsradikale in Prä-Social-Media-Zeiten auf Journalisten ausübten - die FPÖ hat es bei der Kleinen Zeitung mit Abo-Abbestellungskampagnen versucht -, den Rechtsradikalismus der sogenannten Mitte (“Kurz erinnert mich so an Jörg Haider. Er arbeitet mit den gleichen Instrumenten. Kurz hat den Vorteil der sozialen Netzwerke, den hatte Haider damals nicht, aber diese Buberlpartie, die Kurz umgibt, die hatte Haider auch”) und die Verkaufsstragien dieses Milieus (die vor wenigen Wochen bereits Thema im Altpapier waren):
“Wenn ich in jedem Ministerium eine Marketingmaschinerie sitzen habe, oder wenn ich eine Social-Media-Abteilung des Bundeskanzleramtes habe, die größer ist als jede Redaktion, dann was tun?! Das ist eine Waffenungleichheit und bringt uns zu der Frage, was Politikern wichtig ist: der Verkauf ihrer Politik und nicht das, was sie machen.”
Ein weiteres Abschiedsinterview ist in der SZ erschienen. Der Gesprächspartner: Andreas Schreitmüller, der zum Jahresende bei Arte als Leiter der Redaktionen für Fernsehfilm und Spielfilm ausgeschieden ist. In dem Interview formuliert Schreitmüller sowohl formidablen Unfug (“Kein Mensch kann allein ein Drehbuch entwickeln, das ist viel zu komplex”) als auch eine treffende Grundsatzkritik, die nicht untypisch ist für Leute, die gerade dabei sind, sich aus der Branche zu verabschieden:
“Ein gewisses Risiko wird gescheut durch die Verabsolutierung der Einschaltquote. Das ist der Kern allen Übels (…) Dass man so einen abstrakten Wert wie den Gesamtmarktanteil vom Sender (sic!) von einer Programmwoche verabsolutiert, führt zu einem Qualitätsverlust.”
Immerhin ist es Schreitmüller damit gelungen, sich bei zwei Personengruppen unbeliebt zu machen: bei Autoren, die es geschafft haben, “allein” ein Drehbuch zu entwickeln, und bei den Sender-Apparatschiks, die bis vor ein paar Tagen noch seine Kollegen waren.
Mit Schreitmüllers Kritik wären wir beim sehr weiten Thema, was die Öffentlich-Rechtlichen in Zukunft anders machen könnten und sollten. Das Magazin @mediasres hat dazu Oliver Schenk (CDU) interviewt, den Chef der sächsischen Staatskanzlei. Er sagt unter anderem, man könne es “kritisch sehen”, dass ARD und ZDF “teure Sportrechte erwerben” (das bezieht sich wohl vor allem auf Fußball), und schließt daran folgenden Gedankengang an:
“(D)er Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen muss, glaube ich, stärker auch sein, Nischen abzudecken, diese Unterscheidbarkeit zu den Privaten herauszustellen. Deshalb ist es, glaube ich, gut, man hat das gesehen jetzt beim Thema Handball, was mit großem Erfolg übertragen worden ist. Aber es gibt auch andere – den ganzen Bereich des Wintersports, Volleyball – und ich glaube, das ist grundsätzlich die Herangehensweise für den Öffentlich-Rechtlichen, damit er eine gute Zukunft hat, diese Unterscheidbarkeit zu den Privaten herauszuarbeiten. Und das ist eine Aufgabe, die wir als Politik haben, dass wir diesen Auftrag spezifizieren, dass wir ihn schärfen und stärker noch mal auf diese Unterscheidbarkeit auch abstellen zu den privaten Anbietern. Und dass es nicht nur um Quote geht, sondern wirklich auch darum, Dinge auf den Weg zu bringen, die in anderen Formaten nicht stattfinden.”
Obwohl es in einem Radio-Interview nicht unüblich ist, sich zu wiederholen, weil man versucht, einen bereits geäußerten Gedanken noch einmal etwas besser zu formulieren: Dass Schenk in einer Antwort gleich dreimal eine größere “Unterscheidbarkeit” von den Privaten einfordert, ist dann doch bemerkenswert. Man muss im Detail viel kritisieren am Programm der Öffentlich-Rechtlichen, und wir tun das hier ja nicht gerade selten (siehe zum Beispiel den nächsten Themenabschnitt in dieser Kolumne). Es gibt von manchem zu viel, von manchem nicht genug, und vieles ist einfach nicht gut genug. Aber zu fordern, die Öffentlich-Rechtlichen müssten sich stärker von den Privaten unterscheiden - das ist, um es mal mit einem unverfänglichen, also nicht wertenden Vergleich zu versuchen, ungefähr so, als würde man dem Betreiber einer Pizzeria raten, er solle sich stärker vom China-Restaurant auf der anderen Straßenseite abgrenzen.
Wer Schenks Argument - das gewiss nicht neu ist - in Zukunft zu vertreten oder verbreiten gedenkt, sollte vorher vielleicht mal etwas sehr Altmodisches tun und sich zu einem Kiosk oder Supermarkt begeben, um dort eine Programmzeitschrift zu erwerben. Es kostet keine allzu große Lektüre-Mühe, um festzustellen, wie fundamental sich in einer normalen Kalenderwoche - derzeit herrscht ja noch ein Weihnachts-/Neujahrsferienprogrammzustand, obwohl in der ARD “Report Mainz” und “Monitor” in dieser Woche bereits wieder regulär laufen und “Hart aber fair” heute außerplanmäßig (siehe Tagesspiegel) aus der Weihnachtspause kommt - die Programme der Öffentlich-Rechtlichen und der Privaten unterscheiden.
“Während viele Privatsender Hunde trainieren, Singles verkuppeln, Superstars suchen, Ruth Moschner promoten” (wie es der Tagesspiegel in einem Vorausblick auf das TV-Jahr 2021 formuliert), tun die Öffentlich-Rechtlichen dies eher nicht. Während die Öffentlich-Rechtlichen en masse Fiktionales von deutschen Produzenten senden, passiert das bei den Privaten kaum. Während es bei den Öffentlichen-Rechtlichen Polit-Talkshows, den “Weltspiegel”, “Geschichte im Ersten” und mehrere Kulturmagazine gibt, haben die Privaten nix dergleichen. Das ist jetzt, um nun wirklich jegliches Missverständnis auszuräumen, keine qualitative inhaltliche Würdigung, es geht schlicht darum festzuhalten, wo solche Formate existieren und wo nicht.
Vor einem Jahr haben wir hier in einem Jahresrückblick rekapituliert, wie die Dritten Programme der ARD sich ab 2010 peu à peu von ihren Auslandsmagazine verabschiedet und damit ihren Blick verengt haben. Nun wird mit den “Weltbildern” des NDR ein weiteres dieser Magazine eingestellt. Damit scheint in den Dritten Programmen nur noch der “Euroblick” des BR übrig zu sein, eine allerdings lediglich 14-täglich zu sehende Sendung, die, wie der Titel verrät, nicht die gesamte Welt im Blick hat.
Als der NDR im Mai 2020 ein umfangreiches Sparprogramm ankündigte, sagte Intendant Joachim Knuth in einem RND-Interview noch, die “Weltbilder” gehörten zu den Formaten, die man “zu einer crossmedialen Marke entwickeln” wolle. Und: “Das bedeutet nicht, dass es die Formate linear nicht mehr gibt.” Zumindest was die “Weltbilder” angeht, sieht die Wirklichkeit nun anders aus.
Der NDR sagt auf Anfrage: “Die bisherigen Aktivitäten und Ressourcen der ‘Weltbilder’-Redaktion werden für die digitale Redaktion und die Stärkung sowie Verbreitung der Marke ‘Weltspiegel’ im Netz eingesetzt” - also für die Redaktion, die ARD-intern unter Weltspiegel Digital firmiert. Dieses Team stellt originäre auslandsjournalistische Inhalte fürs Netz her, die oft empfehlenswert sind - etwa den Podcast “Weltspiegel Thema” und das Facebook-Format “Drei Fragen, drei Antworten”, das jeweils mit einem TV- oder Hörfunk-Korrespondenten der ARD produziert wird.
Der NDR betont, der Sendeplatz der “Weltbilder” am sehr späten Dienstagabend bleibe “für Auslandsberichte” erhalten, und es sei “noch nicht abschließend geklärt, ob der Name ‘Weltbilder’ erhalten bleibt”. Dafür, dass der Name weiter lebt, spricht aber wenig. Auf dem Facebook-Account der “Weltbilder” sind seit Ende September nur noch zwei Posts erschienen. Im Programm bis Anfang Februar sind auf dem bisherigen Sendeplatz des Magazins “Weltbilder” Wiederholungen von Filmen angekündigt, die in der Regel zuerst in der Reihe “Weltspiegel Reportage” gelaufen sind - darunter sind drei Jahre alte (“Avocado, Umweltkiller Superfood”) oder sogar neun Jahre alte (“Abenteuer Yukon - Reise in das wilde Herz Kanada”; fällt schon fast unter Geschichtsfernsehen, Autor ist Thomas Roth, der schon ein paar Jährchen im Ruhestand ist). Die meisten dieser Termine firmieren unter dem Label “Weltreisen” (die Marke nutzt man auch sonst für Wiederholungen von “Weltspiegel-Reportagen”), zwei unter “Weltbilder” - ohne dass die unterschiedliche Benennung einen Sinn ergäbe.
Es spricht viel dafür, die Weltspiegel-Digital-Redaktion zu verstärken. Und es spricht wenig dagegen, zeitlose Reportagen zu wiederholen (die ja nicht zuletzt deshalb produziert werden, damit sie nahezu beliebig oft wiederholt werden können). Aber Letzteres hat halt mit aktueller Auslandsberichterstattung in der Regel nichts mehr zu tun. Wofür hat die ARD denn ihr Korrespondentennetz, dessen Besonderheit die Hierarchen des Senderverbunds in Sonntagsreden gern besingen?
Als allerletzter Beitrag in der allerletzten linearen “Weltbilder”-Magazinausgabe lief am 8. Dezember ein Film über die zu befürchtende Zerstörung von “Europas größtem Feuchtgebiet”, ein dystopisch anmutender, trauriger Beitrag - passend zum Ende der Sendung, die beinahe 30 Jahre alt geworden wäre (die erste Ausgabe lief am 2. Januar 1991). Am morgigen Dienstag läuft unter dem Label “Weltbilder” immerhin eine sehr aktuelle Wiederholung: “Brasilien - Die Virenjäger”, im Oktober auf dem “Weltspiegel Reportage”-Sendeplatz im Ersten zu sehen, führt uns zum oberen Teil der Kolumne zurück. In der Vorankündigung heißt es:
“Die Wissenschaftlerin Dr. Alessandra Nava aus Manaus sagt: ‘Die nächste Pandemie kommt aus dem Amazonas.’”
+++ Um den heutigen Interview-Schwerpunkt noch einmal aufzugreifen: Drei Gespräche zum Fall Assange, auf die man auch nach der heutigen Urteilsverkündung in London noch einen Blick werfen könnte, seien aus unterschiedlichen Gründen herausgegriffen - mit UN-Folterberichterstatter Nils Melzer (Deutsche Welle), dem CDU-Bundestagsabgeordneten Frank Heinrich (taz) und der Assange-Anwältin Jennifer Robertson (Die Welt [€]).
+++ Listen (I): Zur korruptesten Person des Jahres hat das Journalisten-Netzwerk Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP) Jair Bolsonaro. Knapp geschlagen: Donald Trump und Recep Tayyip Erdoğan. Die Berliner Morgenpost berichtet.
+++ Listen (II): “Die gefährlichsten Länder für Medienschaffende waren 2020 Mexiko (8 Getötete), der Irak (6), Afghanistan (5), Indien und Pakistan (je 4)”, bilanziert Reporter ohne Grenzen. Dass “Mexiko erneut an der traurigen Spitze” steht, kümmere “seine Wirtschaftspartner, auch Deutschland, nicht die Bohne”, kommentiert das ND.
+++ Listen (III): “Einzelfälle” ist nach Meinung des Floskelwolke-Teams die “Floskel des Jahres”. Mein Favorit (“Europäische Lösung”) kam leider nur auf Platz vier.
+++ 2020 hätten “viele Journalist*innen dazugelernt, was Anti-Rassismus und sensible Sprache angeht, diese Lernkurve kann ich für die Berichterstattung zum Thema Inklusion leider nicht sehen. Wie über Menschen mit Behinderungen berichtet wird, ist selbst in großen Medienhäusern alles andere als sensibel.” Das sagt Mareice Kaiser gegenüber Übermedien (€), und Ähnliches hatte Judyta Smykowski vor einem Vierteljahr in einem Altpapier-Jubiläums-Special konstatiert. Der Anlass für Andrea Schönes Übermedien-Artikel: Dass die Einstellung bzw. Zurückstutzung der “Millennial-Medien” (Altpapier) Folgen hat für “die Sichtbarkeit von jungen Menschen mit Behinderung”, weil Letztere in Ersteren vergleichsweise gut repräsentiert waren.
+++ Eines der runden Jubiläen, die 2021 bevorstehen: Im März wird “Die Sendung mit der Maus” 50 Jahre alt. In der Wochenendausgabe der FAZ blickt Armin Maiwald, einer der Gründer der Sendung, aus diesem Anlass schon einmal zurück auf die Anfangstage (75 Cent bei Blendle): “Das damalige Fernsehprogramm für Kinder war uns zu spießig und vor allem zu studiolastig. Wir wollten raus aus dem Studio, in die reale Welt, und den Kindern Geschichten aus dem wirklichen Leben erzählen, aus der Umwelt, die sie kannten (oder auch noch nicht). Wir wollten sie dazu anregen, die Dinge in ihrer nächsten Umgebung genauer zu betrachten und dabei vielleicht zu einer größeren Wertschätzung zu gelangen (…) Es sollten keine ‘Lehrfilme’ sein, also keine ‘Schule auf Umwegen’ (…) Man sollte nichts lernen müssen, aber wenn man hinterher etwas schlauer war, wäre das kein Fehler. Es sollten auch keine klassischen Dokumentarfilme sein, mit unruhiger Handkamera und einem Interview mit dem Generaldirektor oder einem Fachmann. Die Filme sollten ihre Geschichte nur durch eindeutige Bilder erzählen – da waren zum Teil alte Stummfilme unser Vorbild.”
(Anm. d. Red.: Natürlich wird “Die Sendung mit der Maus” im März 50 Jahre alt. (Hat sich eben richtig gut gehalten für ihr “Alter”.) Wir haben die Angabe im Text geändert. Vielen Dank an den aufmerksamen Leser und für den freundlichen Kommentar.)